Wieder einmal ist mir ein tolles Buch in die Hände gefallen: der Essay Umbrales von Óscar Martínez (Siruela-Verlag). Das spanische Wort umbral bedeutet Schwelle. Gemeinsam mit dem Autor betreten wir Gebäude unterschiedlichster Art und hören die Geschichten, Sagen und Legenden, die sich um das jeweilige Gebäude ranken. Dabei erfahren wir auch das ein oder andere Geheimnis. Jedes Kapitel ist wie eine kleine Reise an einen mir bekannten oder unbekannten Ort. Die meisten von Óscar Martínez beschriebenen Orte habe ich noch nicht besucht. Die meisten Stätten, die wir gemeinsam mit ihm entdecken, befinden sich im Mittelmeerraum, dort, wo der Himmel meistens blau ist…
Blau, hmm, das ist eine schöne beruhigende Farbe, und doch gefiel sie den Griechen und Römern der Antike nicht besonders. In bedeutendenen altgriechischen Texten wie der Iliade oder der Odyssee wird kein Begriff gebraucht, der mit der Farbe blau (spanisch: azul) in Bezug gebracht werden kann. Im alten Rom wurde die Farbe blau mit den barbarischen Völkern in Verbindung gebracht, die Blautöne für ihre Kriegsbemalung nutzten (Umbrales, S.113). Das barbarische Blau löste Ängste, Argwohn und Verachtung aus. Um eine Bezeichnung für diese Farbe zu finden, musste man sich Wörtern aus anderen Sprachfamilien bedienen. So stammt das katalanische blau aus dem germanischen Sprachraum, azul dagegen vom arabischen azur. Meines Erachtens ist es sehr interessant, dass wir keine Bezeichnung erfinden für das, was für uns nicht von Interesse ist (Umbrales, S.114). Im Christentum erfuhr das Blau dann eine ungemeine Aufwertung, wie Martínez auf den folgenden Seiten ausführlich beschreibt. Heute spielt es eine wichtige Rolle, zumindest in unserer westlichen Welt. Heiter und beruhigend. Blau…
The Blues?
Blue is the Ocean
Blue is my room
Blue are the horses
Blue is my room
I’m feeling blue, blau, blue
Breakfast with blueberry jam
A field with cornflowers
Kornblumenblau
In my little room.
Von blau komme ich zu grün; das ist zumindest die Farbe, die ich mit Drachen verbinde. Der Drache kommt in der Imagination der Menschen unterschiedlicher Breitengrade und Zeitalter vor. Er ist nicht mehr wegzudenken aus unseren Phantasiewelten (Umbrales, S.169) und auch im kulturellen Brauchtum ist er unverzichtbar, wie nicht nur der Sant-Jordi-Tag in Katalonien in jedem Jahr eindrucksvoll zeigt. In der griechischen Mythologie gab es den Drachen Ladón, ein furchterregendes Tier mit Schlangenkörper, mächtigen Flügeln und einem großen Schlund mit scharfen Eckzähnen. Er war der Hüter der Goldäpfel im Hesperidengarten der Göttin Hera. Diese Äpfel sollten dem Menschen die Unsterblichkeit verleihen. Zu seiner Überraschung musste der Halbgott Herkules feststellen, dass die Goldäpfel der Hera nicht nur von einer Gruppe Nympfen bewacht waren, sondern eben auch vom Ungeheuer Ladón. Doch Herkules besiegte den Drachen und bemächtigte sich der goldenen Äpfel. Zum Andenken an seine treuen Dienste verwandelte Hera Ladón in das Sternbild Draco (Umbrales, S.171f.), bis dann schließlich ein katalanischer Architekt aus ihm den Zaun einer Finca im Westen von Barcelona erschuf…
Wir kommen zu den im Viertel von Pedralbes von Antonio Gaudí ab 1883 geschaffenen pabellones Güell, dem Pförtnerhaus und einigen Pferdeställen, die links und rechts vom Eingang jeweils durch den großen Eisenzaun, der den Drachen Ladón darstellt, miteinander verbunden sind. Das Ungeheuer besaß ursprünglich einen verborgenen Mechanismus, der es erlaubte, einige Teile seines Körpers zu bewegen, und der ihn zum Leben erwecken schien. Durch die Körperform des Drachens, seine Krallen, seinen Schwanz und seine Flügel birgt der Zaun astrologische Konstellationen, wie die Sternbilder des Drachen sowie des Drachentöters Herkules oder des Kleinen Bärens. Rechts vom Eingang, zwischen dem Zaun und den Pferdeställen gibt es eine hohe Säule mit einer Verzierung in Form einer Orange. Gaudí entfernt sich hier also vom Äpfelmythos und ersetzt die Frucht durch die mediterrane Orange. Die Familie, die diesen Ort in Auftrag gegeben hatte, war die des Eusebi Güell. Es war das erste Mal, dass Antonio Gaudí und Eusebi Güell zusammengearbeitet hatten. Der Künstler und sein Mäzen (Umbrales, S.172)…
Der grüne Drache mit seinem besonders scharfem Blick als ausgezeichneter Wächter eines Gartens… Und so muss ich unwillkürlich an den botanischen Garten in Blanes denken, den ich mehrmals besucht habe. Vor dem Aufstieg kann man ein letztes Mal richtig halt machen und folgendes Gedicht am Fuß des Berges lesen:
Es ist eine Huldigung an den Baum, unserer Schattenfreundin („la sombra amiga“), und die Aufforderung an den Vorbeikommenden, diesem keinen Schaden zuzufügen. Vielleicht bräuchten wir mehr sichtbare und unsichtbare Drachenwächter für unseren größten Schatz: die Natur.
Der Drache, in der westlichen Welt, oftmals assoziiert mit dem Bösen, repräsentiert im Orient oftmals genau das Gegenteil. So symbolisieren die Drachen in China u.a. die schöpferische Kraft, die Macht des Wortes und die unerlässliche Energie des Wassers. Der Drache fliegt zum Himmel und sorgt so für den notwendigen Regen. Er bringt den Menschen Nutzen durch seine unbändige Kraft. Wir sollten uns eine gute Seite mit ihnen halten. Und so passt es, dass ich jetzt gleich weiterlesen werden, eines der letzten Kapitel von Umbrales, das im Bormazo, dem Heiligen Wald, in der Nähe von Rom spielt. Dieser wurde von dem Adeligen Vicino Orsini für seine Frau Giulia Farnese geschaffen, ein Ort als Erinnerung an ihre Liebe, die den Tod überdauern sollte. Dort läuft sicherlich das blaue Einhorn… Aber das ist eine neue Geschichte…
Umbrales von Óscar Martínez, erschienen im Siruela-Verlag. Un viaje por la cultura occidental a través de sus puertas. Schwellen von Óscar Martínez. Eine Reise durch die westliche Kultur durch seine Türen (Titel von mir übersetzt). Ein sehr lesens- und liebenswertes Buch.