Literarische Übersetzung (Textprobe)
Luis Sepúlveda, Historia de un caracol que descubrió la importancia de la lentitud, Tusquets, Barcelona 2018.
EINLEITUNG: Informationen zum Autor und zum Werk
Ich möchte Ihnen hier eine Übersetzung des vierten Kapitels aus Luis Sepúlvedas Erzählung Historia de un caracol que descubrió la importancia de la lentitud (Geschichte einer Schnecke, die die Wichtigkeit der Langsamkeit entdeckte) vorstellen. Das Buch ist mir von einem hilfsbereiten Buchhändler in einer kleinen Buchhandlung in Gràcia, Barcelona, zusammen mit drei anderen, kürzlich erschienenen Büchern in spanischer Sprache empfohlen worden.
Kurz zum Autor: Luis Sepúlveda (*1949) stammt aus Chile. Ich habe selbst eine Zeitlang in Valparaíso gelebt und habe somit einen Bezug zu Land und Leuten. Ich freue mich, hiermit einen chilenischen Autor vorstellen zu dürfen. Nach der Veröffentlichung des Romans Un viejo que leía novels de amor (1992; Der Alte, der Liebesromane las), einer Geschichte, die im ecuadorianischen Regenwald spielt, wurde Sépulveda zu einem viel gelesenen lateinamerikanischen Schriftsteller weltweit. Er ist insgesamt erfolgreicher im Ausland als in seinem Heimatland Chile.
Während seiner Jugend unternahm Sepúlveda zahlreiche Reisen, von Punta Arenas nach Oslo und von Barcelona nach Quito. Er besuchte ebenfalls den Amazonas-Regenwald und die Sahara-Wüste. Sepúlveda war politisch engagiert und befand sich unter der Diktatur von Pinochet im Gefängnis; anschließend verließ er das Land. Sein Exil brachte ihn nach Europa, wo er die Mehrheit seiner Romane und Erzählungen veröffentlichte, ohne besonderes Interesse zu zeigen, in sein Heimatland zurückzukehren, was ihm zahlreiche Kritik einbrachte.
Das politische und soziale Gedankengut des Autors zeigt seine Besorgnis um das ökologische Gleichgewicht unseres Planeten und die Zukunft der Menschheit. Trotz Sepúlvedas Engagement in seinem eigenen Land kann man sagen, dass sein Werk kosmopolitische Züge aufweist. In direkter Sprache und anekdotenreich denunzieren seine Bücher die uns drohende ökologische Katastrophe und kritisieren in diesem Zusammenhang den menschlichen Egoismus. Gleichzeitig preist der Autor die Wunder der Natur und lobt die Schönheit der Schöpfung. Für weitere bio- und bibliographische Angaben verweise ich auf die Website https://www.biografiasyvidas.com/ biografia/s/sepulveda_luis.htm, der ich die Angaben zum Leben und Werk des Autors entnommen habe.
Nun zum Werk: Sepúlvedas Historia de un caracol que descubrió la importancia de la lentitud trägt den bezeichnenden Untertitel Una novela para jóvenes de 8 a 88 años. Es handelt sich um eine Art Fabel für Kinder und große Kinder, also jung gebliebene Erwachsene. Ich würde sagen, dass es eines dieser Bücher ist, das man einfach mögen muss, denn es ist in einfacher, klarer Sprache verfasst und inspiriert zum Nachdenken. Es erinnert an andere Werke zum Thema der Langsamkeit in einer schnelllebigen Welt, an Ratgeberliteratur sicherlich, aber vor allem an Michael Endes unvergeßlichen Klassiker Momo. Man kann und muss das Rad nicht neu erfinden: Sepúlvedas Erzählung ist eine bezaubernde Geschichte einer Schnecke, einer Schildkröte und vielen Tieren mehr, eine Geschichte der Achtsamkeit, die nur im slow mode, in einem langsamen Leben, möglich ist. Sicherlich ein zeitloses Thema, das die Herzen der Leser berührt.
Und wie fängt alles an? Ich übernehme hier die Schilderung des Buchdeckels. Die Schnecken leben friedlich und ruhig im Land des Löwenzahns vor sich hin, fernab von gefährlichen Tieren oder anderen Gefahren. Sie nennen sich einfach Schnecken, aber es gibt eine unter ihnen, die sich sehnlichst einen Namen wünscht und herausfinden möchte, warum sie so langsam sind. Der Nonkonformist unternimmt eine Reise, auf der er einen melancholischen Uhu, eine weise Schildkröte und eine Truppe wohlorganisierter Ameisen kennenlernt. Auf dieser abenteuerlichen Reise findet die Schnecke nicht nur einen Namen, sondern auch Antworten auf ihre Frage bezüglich der Langsamkeit und erkennt die Bedeutung der Erinnerung.
In Historia de un caracol que descubrió la importancia de la lentitud finden wir ein beschauliches Paradies vor, das leider vom Menschen, dem größten Räuber dieser Erde, bedroht ist. Letztlich würde ich die Erzählung als initiation story bezeichnen, denn sie handelt von Einem, der auszog, um sich zu bilden, um Erkenntnisse zu gewinnen, von Einem, der den Mut hat, sich aus der Sicherheit der Gruppe zu lösen und ein kleines Abenteuer zu suchen. Es ist die Geschichte eines Rebellen, der aber nicht aus Egoismus, sondern aus Neugier handelt. So führt ihn auch ein starkes Solidaritätsempfinden zu den Seinen zurück. Die Erzählung erinnert mich in Zügen auch an Richard Bachs Die Möwe Jonathan, obwohl es ein viel bescheideneres Werk ist. Unsere kleine Schnecke kann nicht ihre Schwingen erheben, sondern gleitet langsam und bedächtig vor sich hin. Sie kommt vorwärts. Sie lernt. Sie erkennt. Aber was denn? Ich möchte Sie mitnehmen auf eine kleine Reise ins Buch und stelle Ihnen hiermit meine Übersetzung des vierten Kapitels vor, das von der Begegnung der Schnecke und der Schildkröte Erinnnerung handelt, vor. Viel Freude beim Lesen!
ÜBERSETZUNG (Kapitel 4, S.29ff.)
Vier
Ohne mit dem Fressen aufzuhören, sahen die anderen Schnecken zu, wie die Schnecke, die den Grund für die Langsamkeit kennenlernen und darüber hinaus einen Namen haben wollte, sich langsam entfernte, bis sie hinter den höchsten Gräsern der Wiese verschwand.
Als der Sonnenuntergang der Dunkelheit wich, und die Wassertropfen der durch den Tau befeuchteten Gräser und Pflanzen den Schein der Sterne reflektierten, entschied sie, sich einen sicheren Ort zu suchen, um dort die Nacht zu verbringen, irgendeine glatte Oberfläche, auf die sie ihren Körper haften, um sich dann sofort in ihr Schneckenhaus zu verkriechen. Langsam, sehr langsam, glitt sie zunächst auf eine Seite, und da sie dort nichts als Gräser fand, wechselte sie die Richtung, bis dass ihre winzigen Augen einen nicht sehr hohen Stein erblickten, der ihr ein ausgezeichneter Schlafplatz zu sein schien. Gemächlich kletterte sie hinauf, und als sie den Gipfel erreichte, suchte sie den glattesten Ort. Danach streckte sie die Muskeln aus, bedeckte einen ähnlichen Platz wie der Eingang ihres Schneckenhauses, und dann spannte sie die Muskeln wieder an. Mit ein paar Bewegungen stellte sie sicher, dass sie gut auf dem Stein festklebte und machte sich zum Schlafen bereit.
Im Inneren des Schneckenhauses herrschte totale Dunkelheit. Ihr Hals, ihr Kopf, ihre Hörner und ihre Augen bildeten einen kompakten, an die Form der Höhle angepassten Körper, aber ihre Gedanken erlaubten ihr nicht, Schlaf zu finden.
Sie dachte, dass es vielleicht ein Fehler gewesen war, die Gruppe und die Sicherheit des Bärenklau verlassen zu haben, aber gleichzeitig hatte etwas, eine Stimme die nicht ihre war, ihr wiederholt gesagt, dass die Langsamkeit eine Erklärung haben musste, und dass einen Namen zu besitzen, der nur zu ihr gehörte, nur ihrer war, einen Namen, der sie einzigartig und unverwechselbar machen würde, fantastisch sein müsse.
Sie dachte daran, als sie plötzlich spürte, dass der Stein sich bewegte, fast unbemerkbar, aber er bewegte sich. Von anderen, älteren Schnecken hatte sie von den schrecklichen Geschichten eines Tieres gehört, das Igel hieß, das einen von Stacheln bedeckten Körper hatte und in der Lage dazu war, auf der Suche nach Nahrung sehr schwere Steine umzudrehen.
Der Stein bewegte sich noch einmal, und dann hörte sie eine Stimme, die müde zu sein schien, sehr müde.
„Wer… ist… da… hinaufgeklettert?“
Auch hatte sie von den älteren Schnecken gehört, dass der Wind, der durch die Weiden hindurch wehte, eine schreckenerregende Stimme habe, aber die Stimme von unten erschreckte sie nicht.
„Bist du ein sprechender Stein?“, flüsterte sie.
„Ein sprechender… Stein? Wenn du mich… so siehst…, macht es mir nichts aus… Es ist nicht… beleidigend… Und du…, wer… bist du?“
„Ich bin eine Schnecke, und ich habe mich an dir festgeklebt, um so die Nacht zu verbringen. Gestattest du es mir?“
„Eine… Schnecke… Ja… Du kannst… bleiben… Du und ich… Wir ähneln uns…“
Nachdem sie das gesagt hatte, bewegte sich der Stein, um eine Stelle auf dem Gras zu suchen, und die Schnecke fragte sich, was sie damit sagen wollte, dass sie sich ähnelten.
„Warum sprichst du auf diese so langsame Weise? Bist du wie ich, ein langsames Wesen?“
„Ich spreche… so…. langsam…, weil… ich… Zeit… habe, viel Zeit… Schlaf … gut…, Schnecke…“
Die Schnecke stellte ihr mehrere Fragen, die keine Antwort fanden, und schlief vertrauensvoll ein. Bis zur glatten Oberfläche, auf die sie sich geklebt hatte, drang das leichte Geräusch einer friedlichen Atmung, die Zufriedenheit eines Wesens, das unter dem Schutz der Sterne schlief.
Sie erwachte, als die spürte, dass der Stein, oder jenes langsame Wesen, sich bewegte. Sie streckte langsam ihre Muskeln aus, sehr langsam, streckte ihren Kopf heraus, zog ihre Hörner heraus, um einen Blick nach draußen zu werfen, und sah, dass sie sich auf eine schönen Oberfläche befand, fast so schön wie die Moosschicht, mit der normalerweise die Steine auf dem feuchten Teil der Wiese bedeckt waren.
„Du entscheidest…, Schnecke. Entweder steigst du hinab, oder ich nehme dich mit…“, sagte die müde Stimme.
Langsam, sehr langsam, stieg sie hinab, bis ihr Körper das Gras berührte, und dann entdeckte sie sogleich, dass sie sich nicht in der Nacht an einen sprechenden Stein geklammert hatte, sondern an ein Wesen, das ebenfalls einen harten Panzer besaß, unter dem vier robuste Füße hervorschauten, ein Hals voller Falten, ein Mund in Form eines Schnabels, der sie nicht einschüchterte und ein Paar halbgeschlossene Augen, die sie aufmerksam beobachteten.
„Ich bin… eine… Schildkröte…“, rief sie, als sie feststellte, dass die Schnecke den Hals herausstreckte, um sie zu betrachten.
Die Schnecke hatte nie ein Tier gesehen, dass von so gewaltigem Umfang war, und keinen Schrecken erregte, und sagte es ihr. Die Schildkröte näherte sich mit ihrem Kopf, um besser ihre zarte Stimme zu vernehmen, und sie erzählte ihr, dass sie immer noch wachse. Mit ihrer langsamen und bedächtigen Art zu sprechen, so als ob sie mit ermüdender Anstrengung noch genauere Wörter suchte, teilte sie ihr mit, dass sie ebenfalls ein kleines und furchtsames Wesen gewesen sei, und dass sie verwandt sei mit den großen Galapagosschildkröten, die ein langes Leben hatten, und die über enorme Körper verfügten, um die Erinnerung von all dem, was sie gesehen, gehört, gefürchtet, geliebt hatten, die Gründe für Zorn und Freude, der Wärme und der Kälte, des schreckenerregenden Feuers und des erfrischenden Wassers, für sich zu bewahren.
Die Schildkröte begann voranzuschreiten. Obwohl sie sich langsam, sehr langsam fortbewegte, zwang sie die Schnecke mit jedem Schritt, den sie machte, zu einer enormen Anstrengung, um an ihrer Seite zu bleiben. Nach kurzer Zeit fühlte diese sich erschöpft und bat sie um die Erlaubnis, wieder auf ihren Panzer klettern zu dürfen.
„Ich kann deinem Tempo nicht folgen. Du bist sehr schnell für mich“, sagte die Schnecke.
„Ich… und schnell?… Das ist das… erste… Mal…, dass… man… mir… das… sagt. Ja, Schnecke…, steig hinauf“, antwortete die Schildkröte.
Als sie oben angekommen war und sich hinter dem Kopf der Schildkröte positioniert hatte, fragte die Schecke diese, wohin sie gehe, und die Schildkröte antwortete ihr, dass dies nicht die passende Frage sei, und dass sie sie in Wahrheit fragen müsse, von woher sie komme. So erzählte die Schildkröte ihr, während sie foranschritt und die Schnecke fühlte, dass die Gräser der Wiese an ihr mit einer für sie unbekannten Schnelligkeit vorbeiglitten, dass sie aus dem Vergessen der Menschen komme.
„Ich weiss nicht, was das ist, das Vergessen, und ich kenne auch nicht die Menschen“, flüsterte die Schnecke.
Daraufhin senkte die Schildkröte ihre Geschwindigkeit und sprach von ihrer glücklichen Ankunft in einem Haus, in dem es nicht an frischen Salatblättern mangelte, an saftigem Tomatenmark und Erdbeerkompott. Ein paar Kinder kümmerten sich um sie und verwöhnten sie. Sie hatten ihr ein bequemes Strohbett im äußersten Winkel des Garten eingerichtet. Während der heißen Sonnentage war jener Garten ihre Welt, und als der kalte Regen die Tage zunächst verkürzte, und später der Schnee den Innenhof in eine unwirtliche Eisfläche verwandelte, öffneten die Kinder ihr das Haus und ließen sie in einer warmen und gemütlichen Ecke schlafen.
„Man kann nicht sagen, dass du dort eine schlechte Zeit verbracht hast“, warf die Schnecke ein.
„Nein… ich… beschwere… mich… nicht, aber… die Menschen… wachsen heran… und vergessen…“, seufzte die Schildkröte und erzählte ihr, wie im Verlauf der Zeit und in dem Maße, wie die Kinder sich in Jugendliche und in Erwachsene verwandelten, ihre Aufmerksamkeit nachließ und das Essen knapper wurde, bis dass sie sie als ein störendes Wesen betrachteten, dessen man sich entledigen müsse. Und so setzten sie sie schließlich auf der Wiese aus.
Die Erzählung der Schildkröte machte die Schnecke traurig, und sie wurde noch trauriger, als die Schildkröte ihr berichtete, wobei sie langsam unter den vielen Wörtern, die sie kannte, auswählte, dass sie die Wiese durchquert hatte und seltsamen, gleichermaßen liebenswürdigen und feindseligen Wesen begegnet sei. Sie sei für immer weit weg von dem Ort gewesen, der einst ihr Heim gewesen war, mit Kurs auf einen unbestimmten Ort, der eines der grausamsten Wörter als Namen trug. Er hieß Exil.
„Kann ich dich begleiten?“, flüsterte die Schnecke.
„Sag mir… zuerst…, was… du… suchst…,“ antwortete die Schildkröte, und die Schnecke erzählte ihr, dass sie den Grund für ihre Langsamkeit kennenlernen und dass sie einen Namen haben wollte, denn es war so, dass das Wasser, das vom Himmel fiel, Regen hieß, die Früchte des dornigen Efeus Maulbeeren hießen, und das Aroma, das aus den Waben entwich, Honig hieß. Und sie erzählte ihr ebenfalls, dass ihre Frage und ihr Wunsch die anderen Schnecken verärgert habe, dass sie diese so verärgert habe, dass sie ihr angedroht hätten, sie von der Wiese zu vertreiben, so dass sie die Entscheidung getroffen habe wegzugehen und nicht zurückzukehren, bis dass sie eine Anwort und einen Namen habe.
Bevor sie antwortete, suchte die Schildkröte mit noch mehr Ruhe als gewöhnlich die passenden Wore und berichtete ihr, dass sie viele Dinge gelernt habe, während sie mit den Menschen zusammenlebte. So erzählte sie, dass diese einen Menschen Rebell nennen, der unbequeme Fragen wie „Ist es notwendig, so schnell zu gehen?“ oder „Müssen wir wirklich um jeden Preis glücklich sein?“ stellt.
„Rebell, mir gefällt dieser Name!“, flüsterte die Schnecke. „Haben die Menschen dir einen Namen gegeben?“
„Ja…, da ich… nie… den Hinweg… und auch nicht… den Rückweg… vergaß…, nannten sie mich… Erinnerung…, aber sie haben mich vergessen.“
„Also, Erinnerung, gehen wir zusammen weiter?“, fragte die Schnecke.
„Einverstanden…, Rebell“, antwortete die Schildkröte. Sie drehte ihren Körper langsam, sehr langsam und wies sie an, dass sie umdrehen würden, denn sie wolle ihr etwas Wichtiges zeigen. Etwas, dass ihr zu verstehen gebe, dass sie sich auf demselben Weg befunden hätten, bevor sie Bekanntschaft miteinander geschlossen hätten.