Iris saß in ihrem Garten. Nein, sie saß nicht in ihrem Garten. Sie arbeitete in ihrem Garten. Sie beschnitt ihre Eiben. Bald sollte wieder ein Schiedsgericht mit dem Nachbarn stattfinden, um Grenzstreitigkeiten beizulegen. Bloß nicht noch mehr Ärger! Ihre Freundin wollte ihre Ruhe haben. Meistens zog sich Iris sowieso in ihr Haus zurück, das einmal ihren verstorbenen Eltern gehört hatte. Im Garten war sie nur, um sich um ihre geliebten Pflanzen zu kümmern, die sie stets liebevoll hegte und pflegte und manchmal einem Zitronenfalter hinterherzusehen. Im Herbst pflückte sie die Birnen an ihrem Birnbaum und verteilte sie reichhaltig an ihre Freunde aus dem Dorf. Sie erinnerte Dori, ihre langjährige Freundin, an eine der prächtigen Rosen aus dem Park Cervantes in Barcelona, den sie einmal gemeinsam besucht hatten.
Im Frühjahr duftete es dort, und der Wohlgeruch verbreitete sich weit über die Grenzen des Parks hinaus und kitzelte alle in der Nase: die kleinen Lausbuben und die Mädchen mit den Affenschaukeln, die von ihren Müttern spazieren geführt wurden, den Müttern, die sich danach sehnten, sich noch einmal für ein Date mit ihrem Verlobten herausputzen zu dürfen, die Männer, die von einer Reise in exotische Gefilde träumten… Sogar die Vögel schienen vom Wohlgeruch der Rosen berauscht zu zwitschern, und die Hummeln brummten vergnügt…
„Iris, komm!“, Dori schaute ihre Freundin an. „Setzen wir uns doch in deinen Garten… Ach, wie sehr ich Gärten liebe! Viele Gärten habe ich besucht: in den Gärten von Orotava auf Teneriffa flaniert, in den Gärten der Welt in Berlin gepicknickt, mit der Fähre übergesetzt, um im japanischen Garten auf Vancouver Island zu wandeln…“ Dori machte eine bedeutungsvolle Pause. „Aber wo es mir am besten gefallen hat, das war im Garten meiner Mutter.“, fuhr sie fort. „Dort war ich ungestört und konnte meinen Gedanken freien Lauf lassen, Schmetterlinge und Bienen beobachten und Johannisbeeren naschen…“
„Dies hier war ebenfalls der Garten meiner Mutter.“, warf Iris ein. „Ihr Geist schwebt durch die Zweige und verfängt sich in den kalten Dezember- Raunächten in der Wäsche, wenn ich nicht aufpasse. Es ist der Garten meiner toten Kinder, den Kindern, die das Leben mir verwehrt hat. Ihr Weinen höre ich in windstillen Nächten. Es vermischt sich mit dem Plätschern des kleinen Brunnens. Manchmal geht es in ein glucksendes Lachen über. Ihre Stimmungen sind meine Stimmungen… Ihre Stimme ist meine Stimme.“ Iris brach ab, lächelte wehmütig und eine Träne rollte ihre Wange hinab.
So idyllisch und malerisch könnte es sein. Zwei Freundinnen beim Teetrinken in einem beschaulichen Garten. Chinesisches Porzellan mit Drachen. Iris in ihrer goldglänzenden Hose. Dori im geblümten Sommerkleid und mit Strohhut auf dem Kopf. Trügerische Idylle? Nein, an diesem Tag gelang es ihnen zum ersten Mal seit langer Zeit, ihre Wehmut zu vergessen, die Trauer zu überwinden und einfach zu sein. Im Hier und Jetzt. Eins mit sich und ihrer Umgebung. In Iris Garten. Stille.
So schön das auch klingt. Das ist nicht das Ende. Eines Tages klopfte es an Iris Tür. „Hallo, wir sind es: Deine Nachbarn von nebenan. Wir haben gehört, dass Du krank warst und möchten Dir gerne etwas vorbeibringen. Schau mal, selbstgemachte Johannisbeermarmelade!“ Iris war verwundert. „Möchten Sie reinkommen?“ „Sehr gerne. Nur eine Weile… Dann gehen wir wieder… Sie haben Ihr Haus aber wirklich geschmackvoll eingerichtet! Man merkt, dass Sie Künstlerin sind. Ist das der Stein aus dem hiesigen Steinbruch?…“ Aus „einer Weile“ wurden zwei Stunden. Sie scherzten und lachten. Dori liebte diese Geschichte… Dann ging das Leben weiter. Iris und ihre Nachbarn gingen ihre eigenen Wege. Und das war gut so. Aber fortan grüßten sie sich auf der Straße. Und manchmal plauderten sie sogar… Und das ist auch nicht das Ende, denn alles wird. Wird immer besser…?